Bemerkungen zu Sabine Seemanns Land- und „Luftschaften“ von 2013 und 2014

In Sabine Seemanns Ausstellung „heiter bis wolkig“ im Kunstturm des Kunstvereins Rotenburg e. V. sind ein Dutzend ihrer Arbeiten aus den Jahren 2013 und 2014 zu sehen. Es handelt sich bei den Werken um Land- und „Luftschaften“ (Gotthilf Heinrich Schubert über die Himmel in den Gemälden von Caspar David Friedrich), um Darstellungen zum einen des sowohl Irdischen als auch Himmlischen und zum anderen des nur Himmlischen. Regieartig auf die Etagen des Turms aufgeteilt, ergibt sich vom wetter II bis zum himmel IV ein Aufstieg von den Ähren auf den Äckern bis zu den Wolken, vom breiten und weiten Land unter dem hohen Horizont bis zum Bereich jenseits des Horizonts. In die oberste Etage, oberhalb der Baumkronen, die durch die Rundumverglasung in allen vier Himmelsrichtungen zu sehen sind, platziert die Künstlerin einen Text, der vom „making of“ des Gemäldes feld II im Erdgeschoss erzählt.

 

Der „Entstehungsbericht feld II“ gibt Auskunft über den Malprozess dieses Bildes, aber en passant auch über das, was dem Malen vorausgeht: das Studieren und Skizzieren des Feldes, das gemalt werden wird. Der Bericht gibt ferner Auskunft über die Maltechnik: Dass die Künstlerin mit Pinsel und Spachtel malt. Dass sie die Farben teils verdünnt und teils unverdünnt aufträgt. Dass sie die Farben auf der Leinwand mal nass in nass ineinander vermischt, mal antrocknen lässt, sodass sie sich nicht mit den nächsten Farben zu Unfarben vermischen. Dass sie die Farben plastisch modelliert, reliefartig; „eine breiige Masse“ (Sabine Seemann) von Farben, halb Malerei und halb Bildhauerei. Und der Bericht gibt last, not least Auskunft über das, was das Malen Schritt für Schritt leitet: Ein Bild zu erhalten, das innerbildlich wie außerbildlich stimmig und stimmungsvoll ist. Innerbildlich stimmig heißt u. a.: Dass es eine Balance der Farben und einen Rhythmus der Linien innerhalb des Bildes gibt sowie ein modelliertes Volumen. Außerbildlich stimmig und stimmungsvoll heißt u. a.: Dass das Bild das trifft, was es außerhalb seiner selbst treffen soll: ein Kornfeld, „grün“ und „noch nicht reif“ an einem „heiteren, ersten Sommertag“ (Sabine Seemann).

 

Was die Künstlerin anhand dieses Bildes schildert, ist eine alte, ja uralte Fassung dessen, was die Malerei zu leisten vermag: Sie ahmt die Natur nach. Die Griechen nannten dies „mimesis“, die Römer „imitatio“. Sabine Seemann steht in dieser Linie, wenn sie mit vielen Farben rund um Grün das frische, frühe Korn wiedergibt, mit Pinselhieben Halm für Halm des Korns andeutet oder mit weißer vor blauer Farbe ein Schäfchenwölkchen vor blauem Himmel widerspiegelt. Sie hält aber auch, ganz und gar jung und modern, in Kenntnis der Kunst des Impressionismus und Expressionismus, der Farbfeldmalerei, des Informel und des Tachismus Abstand von einer Kunst verabsolutierter Naturnachahmung, von einer Kunst der reinen Augentäuscherei, die mit gemalten Ähren zum Ernten verführen will. Für sie ist ein Bild ein Abbild, aber eben auch ein Bild; ein Zeichen für etwas, aber eben auch ein Zeichen, das aus etwas besteht, bei ihr aus Massen von Farben auf Leinwänden oder Nessel. Damit steht die Künstlerin mit ihrer Kunst zwischen den Polen der „großen Realistik“ und der „großen Abstraktion“ (Wassily Kandinsky).

 

Dass die Künstlerin abstrahiert, die Gegenständlichkeit aber nicht verlässt, wird in der sehr gut gehängten Ausstellung in vielerlei Hinsicht augenfällig. So im Erdgeschoss im Vergleich des gezeichneten und des gemalten Kornfelds: Hier zeigt sich, dass die Zeichnungen gewissermaßen Memogramme und Stenogramme von Natureindrücken sind; rasch wird registriert, manchmal mehr, als dann in die Malerei einfließt, in der die Künstlerin die Windräder weglässt. Dadurch wird das Gemälde ein klassisches Landschaftsgemälde, beschränkt auf das Elementare und Essentielle, widergespiegelt durch die sich auftürmenden, zerklüfteten Ölfarben, die sich deutlicher als Materie artikulieren als Kreide und Tusche auf Papier. Wie wichtig der Künstlerin die Widerspiegelung des Kolorits ist, verdeutlicht der Vergleich der Gemälde feld II im Erdgeschoss und feld III im 1. Geschoss. Ersteres trifft exakt das Farbklima des Frühsommers, letzteres das des Spätsommers. Nicht nur der Raum ist also nachgeahmt, sondern auch die Zeit. Hinzu kommt die Stimmung, die die Natur zu unterschiedlichen Tages- und Jahreszeiten vermittelt, die Stimmung, die die Künstlerin in ihren Gemälden wiederzubeschwören weiß. Dies zeigt sich sowohl in den zuletzt genannten Gemälden als auch im Vergleich der Bilder himmel III und himmel II im 2. Geschoss. Das eine ist ein ebenso beeindruckendes wie bedrückendes Donnerwetterbild, das andere mit seinen rosaroten Einsprengseln ein heiteres Schönwetterbild.

Im 3. Geschoss hängen zwei weitere Werke mit Darstellungen des Himmels und dessen Wolken, eine doppelseitige Zeichnung und ein Diptychon, eine Hommage an den Himmel als ein großes, großartiges Phänomen. „Es ist gewiss etwas sehr Geheimnisvolles in den Wolken […] und eine gewisse Bewölkung hat oft einen ganz wunderbaren Einfluss auf uns. Sie ziehn und wollen uns mit ihrem kühlen Schatten auf und davon nehmen und wenn ihre Bildung lieblich und bunt, wie ein ausgehauchter Wunsch unsers Innern ist, so ist auch ihre Klarheit, das herrliche Licht, was dann auf der Erden herrscht, wie die Vorbedeutung einer unbekannten, unsäglichen Herrlichkeit.“ (Georg Philipp Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis) Den Himmel darzustellen, hat eine lange Geschichte. Goethe lässt grüßen, die Romantiker wie Caspar David Friedrich oder Johan Christian Dahl oder die Modernen wie Strindberg, Hodler und Mondrian. Den Himmel darzustellen, ist wieder und wieder ein Wagnis, flüchtig und mächtig, wie er ist. Sabine Seemann wählt hierzu zum einen eine breite Palette, um die Vielzahl der flüchtigen Farben einzufangen, zum anderen eine satte Masse von Farben, um die Erhabenheit der Erscheinung wiederzugeben, verstärkt durch das große Format von 120 x 170 cm (es ist das größte in der Ausstellung) und die Pathosformel des Diptychons (es ist das einzige in der Ausstellung). himmel IV ist dergestalt der Gipfel der Erwanderung der Ausstellung „heiter bis wolkig“ von Sabine Seemann im Kunstturm des Kunstvereins Rotenburg e. V.

 

Frank Laukötter